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Anhaltende Beckenschmerzen

Per Definition sind Schmerzen unangenehme, komplexe Sinnes- oder Gefühlserlebnisse, die mit tatsächlichen oder möglichen Gewebeschäden assoziiert sind. Schmerzen zwischen Unterbauch und Hüfte werden als Beckenschmerzen bezeichnet.

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Schmerzphysiologie

Akute Schmerzen sind eine lebenserhaltende und damit sinnvolle Reaktion des Organismus. Wenn „Gefahrenfühler“ (Nozizeptoren) angeregt werden, leiten bestimmte Nervenbahnen das Schmerzsignal zum Rückenmark und über das Zwischenhirn zu verschiedenen Bereichen des Gehirns. Nozizeptoren werden in entzündetem und verletztem Gewebe sensibler.

Akute Schmerzen warnen uns, dass etwas nicht stimmt, und schützen uns so vor Schäden und Verletzungen bzw. zwingen uns nach einer Verletzung zur Schonung, damit alles wieder heilen kann. Wenn eine Verletzung aber verheilt ist, sollte auch der Schmerz wieder weg sein. Normalerweise dauert das Verheilen von Gewebe, je nach Schweregrad, bis zu 3 Monaten.

Wenn der Schmerz über einen Zeitraum von 3-6 Monaten anhält oder immer wiederkehrt, sprechen wir von chronischen oder anhaltenden Schmerzen. Durch immer wiederkehrende Reize können sich die Nerven (Nervenbahnen und Gehirn) verändern und sensibler werden. Diese anhaltenden Schmerzen führen zu deutlichen Beeinträchtigungen in allen Lebensbereichen. Dabei ist das Fehlen einer körperlichen Schädigung oft sehr belastend: “Ich bilde mir den Schmerz doch nicht ein“. Schmerz wird vom Körper als Warnung wahrgenommen und es werden deshalb Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin ausgeschüttet.

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Als Beispiel können wir uns vorstellen, dass wir die Haustür öffnen und da ein großer Tiger sitzt. Als Reaktion darauf würde der Körper Stresshormone ausschütten, wir hätten erst Angst, aber wenn der Tiger weg ist, beruhigen wir uns wieder. Wenn wir aber jedes Mal, wenn wir über die Schulter schauen, damit rechnen einen Tiger zu sehen lässt diese Stresssituation nicht nach. Das nennt man Hypervigilaz oder erhöhte Wachsamkeit.

Neben körperlichen Faktoren spielen bei anhaltenden Schmerzen immer auch seelische und soziale Faktoren eine Rolle. Alle Faktoren wirken auf die Empfindung von Schmerzen und werden wiederum von der Schmerzempfindung beeinflusst. So können schmerzhafte körperliche oder seelische Erfahrungen aus früheren Erfahrungen ebenso eine Rolle spielen wie Überzeugungen und Einstellungen, die sich in unseren Gedanken und Gefühlen widerspiegeln. Die Vorstellung einer Gefahr kann sogar schon Schmerzen auslösen und hier spielen die Gedanken eine sehr entscheidende Rolle. Diese negativen Gedanken und Überzeugungen werden auch als „Gedanken-Virus“ bezeichnen. Wenn solche Gedankenmuster nicht erkannt werden und etwas dagegen getan wird, kann es sich steigern, das wird Katastrophisieren genannt und führt wiederum zur Verschlimmerung von chronischen Schmerzen (Beckenschmerzen).[1], [2], [3]

Schmerzen und Stress

Sowohl körperlicher, aber auch psychischer oder sozialer Stress gehen oft einher mit andauernder muskulärer Anspannung. So kann es in Folge der Daueranspannung zu Schmerzen in Muskeln, Sehnenansätzen, Knochenhaut oder im Bindegewebe kommen. Es entsteht leicht ein Teufelskreis aus Anspannung, Schmerz, Bewegungseinschränkung und schneller Erschöpfung.

Schonung und Vermeiden von Aktivitäten sind kontraproduktiv

Körperliche Schonung kann bei akuten Schmerzen hilfreich sein. Bei chronischen Schmerzen bringt Schonung mehr Schaden als Nutzen. Durch eine andauernde Schonhaltung kommt es zu Muskelverspannungen, Durchblutungsstörungen und einem generellen Abbau der Muskelkraft, was langfristig eine Verstärkung der Schmerzen zur Folge haben kann. Das dauerhafte Vermeiden sozialer Aktivitäten begünstigt oder verstärkt eine depressive Stimmungslage, da Freude und Ablenkung fehlen. Besonders Angst vor „falschen“ Bewegungen, drohendem Leistungs- oder Arbeitsplatzverlust, finanziellen Einbußen und partnerschaftlichen Konflikten können den Teufelskreis verstärken.

Durch ein langsames, gezieltes Ausführen von schmerzauslösenden Aktivitäten, die sonst vermieden werden, wird den Nerven beigebracht, nicht zu überreagieren. Man fängt mit etwas an, das keine oder minimale Schmerzen auslöst und steigert langsam zur eigentlichen Aktivität. Dieses Konzept wird „graded exposure“ genannt.[4], [5]

Anhaltende Beckenschmerzen

Im Becken gibt es viele Strukturen, die wehtun können wie z. B. Blase, Harnröhre, Genitalien, Beckenboden, Rektum / Anus und Steißbein. Die Beckenschmerzen beginnen meist akut z. B. nach einer Verletzung, sich wiederholenden Aktivitäten oder Infektionen und halten dann mehr als 3 Monate an. Einen wichtigen Faktor stellt die Beckenbodenmuskualtur dar, ist oft sehr angespannt ist und nicht mehr entspannen kann. Stress ist eine Komponente, die häufig dazu beträgt.

Beckenboden Physiotherapie

Wie oben erklärt, werden auch im Becken die Nozizeptoren aktiviert und schicken die Nachricht an das Rückenmark, diese geht weiter an das Gehirn. Im Gehirn haben wir den somatosensorischen Cortex in dem Körperregionen repräsentiert sind, man nennt ihn auch sensorischen Homunculus. Je nachdem wie sensibel ein Körperteil ist, ist er hier größer oder kleiner. Durch immer wiederkehrende Reize können sich sowohl die Nervenbahnen als auch der Homunculus verändern, das kann ein Teil der Erklärung für anhaltende Beckenschmerzen sein.[6] Diese Veränderungsfähigkeit der Nerven wird Neuroplastizität genannt. Genau diese Eigenschaft nutzen wir auch in der Therapie.

Mögliche Ursachen für anhaltende Beckenschmerzen sind unter anderem:

  • Endometriose
  • Beckenentzündungen
  • Beckenvenenobstruktion
  • Reizdarmsyndrom
  • Harnwegsinfektionen
  • Myome und Zysten
  • Prostatitis
  • Blasenschmerzsyndrom
  • Beckenbodenverspannung
  • Verletzungen (durch Stürze, Geburt etc.)
Beckenboden Physiotherapie

Behandlung von anhaltenden Beckenschmerzen

Eine Behandlung sollte auf dem biopsychosozialen Prinzip basieren: Bio – körperlich, psycho – emotional und sozial – Unterstützung aus dem Umfeld. Das heißt wir müssen alle Ebenen beachten und nach Bedarf zu anderen Spezialisten verweisen.[7]

Es gibt spezielle Medikamente und andere Behandlungen durch Ärzte, die helfen können. Wichtig ist, dass erst genau untersucht wird, um andere Ursachen auszuschließen.

In der physiotherapeutischen Behandlung gibt es viele Ansätze wie z. B.[8]:

  • Schmerzen verstehen: Das Verständnis der Schmerzphysiologie
  • Entspannung / Meditation
  • Bauchatmung
  • Dehnungen der Beckenboden-, Bauch und Hüftmuskulatur
  • Behandlung der Beckenbodenmuskulatur (mit myofaszialen Techniken, Massage-Wand, Vaginaldehnern etc.)
  • Erkennen von „Gedankenviren“ und anderen Auslösern
  • Rückkehr zur Aktivität und Bewegung: Bewegung hilft Endorphine auszuschütten und diese werken schmerzlindernd und entspannend. Bewegung hilft die Durchblutung zu verbessern und erlaubt den Nerven im Becken sich zu bewegen.
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Wichtige Faktoren:

  • Akute Schmerzen frühzeitig und richtig behandeln.
  • Es ist immer das Gehirn, das entscheidet ob, etwas wehtut.
  • Die Schmerzintensität ist nicht unbedingt abhängig vom Ausmaß eines Gewebeschadens.
  • Wenn etwas bei anhaltenden Schmerzen weh tut, bedeutet das nicht immer, dass wir uns damit schaden.
  • Die Plastizität unseres Gehirns/ Nerven erlauben uns, die Schmerzreaktion zu verändern.
  • Eine schrittweise Wiederkehr zu Bewegung und Aktivitäten, die den Schmerz verursachen, ist wichtig
  • Niemals aufgeben!

Anhaltende Beckenschmerzen sind ein riesengroßes Thema! Auf die physiotherapeutische Behandlung bei überaktiver Beckenbodenmuskulatur gehe ich in einem späteren Artikel noch einmal mehr ein. Der Weg aus dem Schmerz ist für die meisten nicht geradlinig und eine riesengroße Herausforderung. Es ist wichtig sich die Hilfe zu suchen die es braucht!  

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1 Butler DS & Moseley GL (2013) Explain Pain. 2nd Edn. Noigroup Publications: Adelaide.

[2] Moseley GL, Butler DS. Fifteen Years of Explaining Pain: The Past, Present, and Future. J Pain. 2015 Sep;16(9):807-13. doi: 10.1016/j.jpain.2015.05.005. Epub 2015 Jun 5. PMID: 26051220.

[3] A Feizerfan, FRCA, G Sheh, BHB MBChB FAFRM(RACP) FFPMANZCA, Transition from acute to chronic pain, Continuing Education in Anaesthesia Critical Care & Pain, Volume 15, Issue 2, April 2015, Pages 98–102, https://doi.org/10.1093/bjaceaccp/mku044

[4] Ariza-Mateos MJ, Cabrera-Martos I, Ortiz-Rubio A, Torres-Sánchez I, Rodríguez-Torres J, Valenza MC. Effects of a Patient-Centered Graded Exposure Intervention Added to Manual Therapy for Women With Chronic Pelvic Pain: A Randomized Controlled Trial. Arch Phys Med Rehabil. 2019 Jan;100(1):9-16. doi: 10.1016/j.apmr.2018.08.188. Epub 2018 Oct 9. PMID: 30312595.

[5] Sullivan, A.B., Scheman, J., Venesy, D. et al. The Role of Exercise and Types of Exercise in the Rehabilitation of Chronic Pain: Specific or Nonspecific Benefits. Curr Pain Headache Rep 16, 153–161 (2012). https://doi.org/10.1007/s11916-012-0245-3

[6] Massimo Origoni, Umberto Leone Roberti Maggiore, Stefano Salvatore, Massimo Candiani, „Neurobiological Mechanisms of Pelvic Pain“, BioMed Research International, vol. 2014, Article ID 903848, 9 pages, 2014. https://doi.org/10.1155/2014/903848

[7] Kumar, R., Scott, K. Chronic Pelvic Pain and the Chronic Overlapping Pain Conditions in Women. Curr Phys Med Rehabil Rep 8, 207–216 (2020). https://doi.org/10.1007/s40141-020-00267-3

[8] Susanne G. R. Klotz MSc, PT, HS, Mila Schön BSc, PT, Gesche Ketels BA, PT, HE, Bernd Löwe MD & Christian A. Brünahl MD (2019) Physiotherapy management of patients with chronic pelvic pain (CPP): A systematic review, Physiotherapy Theory and Practice, 35:6, 516-532, DOI: 10.1080/09593985.2018.1455251

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