Geburtsverletzungen sind ein schwieriges Thema, über das wir allgemein lieber nicht reden. Man möchte niemandem Angst machen oder negativ sein, also geht es auch in die Kiste zu den viele anderen Tabuthemen. Eine Geburt ist ein besonderes Ereignis im Leben der Eltern. Werdende Mütter haben Vorstellungen wie ihre Geburt ablaufen soll, wie sie ihr Kind in der Welt begrüßen.
Es ist jedem klar, dass eine Geburt kein Spaziergang ist, aber die wenigsten befassen sich mit der Möglichkeit, dass es bei der Geburt zu Verletzungen kommen kann, die die Beckengesundheit langfristig beeinträchtigen und das Leben verändern können. Das Wissen darüber kann bestärkend sein, denn im Kreissaal Entscheidungen zu treffen, ohne sich davor schon einmal damit auseinander gesetzt zu haben, ist sehr schwierig.
Kurz zur Anatomie
Um zu verstehen, wo die Verletzungen passieren, ist es hilfreich zu wissen, wo sich was befindet. Wenn wir von unten auf das Becken schauen, dann sehen wir oben den Mons Pubis (Venushügel), vorne die Klitoris (bzw. sieht man nur die Klitoriseichel, die Klitoris ist bis zu 9 cm groß und verläuft im inneren der Genitallippen), darunter die Harnröhrenöffnung, der Scheideneingang und davon links und rechts die Genitallippen (kleine innen und große außen). Dieser äußere Bereich wird auch als Vulva bezeichnet. Mit Scheide oder Vagina ist der innere, schlauchartige Bereich gemeint, der vom Scheideneingang bis zum Gebärmutterhals verläuft. Vom hinteren Ende des Scheideneingangs bis zum Anus befindet sich der Damm (auch Perineum genannt).
Die Beckenbodenmuskulatur wird in einem früheren Artikel genauer erklärt.
Was für Geburtsverletzungen gibt es?
- Dammrisse sind die häufigsten Geburtsverletzungen, betroffen ist die Haut und teilweise die oberflächliche Muskulatur. Meist sind diese Risse klein und verheilen gut ohne Probleme zu machen. Es kommt manchmal auch zu großen Dammrissen, die bis in den analen Schließmuskel gehen. Das sind dann Dammrisse 3. oder 4. Grades und solche Verletzungen müssen gleich nach der Geburt operativ vernäht werden.[1]
- Ein Dammschnitt wird bei einem erhöhten Risiko für einen großen Dammriss (Episiotomie) gemacht, um einem Riss in den Schließmuskel vorzubeugen.[2]
- Es kann auch zu Rissen an Vagina, Gebärmutterhals, Harnröhre, Schamlippen oder Klitoris kommen.
- Abrisse der tiefen Beckenbodenmuskulatur nennt man Levator ani Avulsion. Dabei kann der Muskel am Schambein auf einer oder beiden Seiten teilweise oder vollständig reißen.[3] Der Einsatz von Geburtszangen ist ein Hauptrisikofaktor.
- Der Nerv, der die Beckenbodenmuskulatur versorgt, Nervus Pudendus, kann durch Überdehnung oder zu viel Druck auch verletzt werden. Das kann dazu führen, dass Frauen ihre Beckenbodenmuskulatur meist vorübergehend nicht richtig anspannen können.
Generell erhöht sich das Risiko für eine Verletzung z. B. wenn das Baby sehr groß ist (> 4 kg), bei sehr kurzer oder langer Austreibungsphase und wenn Geburtsglocke oder -zange ins Spiel kommen. [4]
Folgen solcher Geburtsverletzungen
Nach einer vaginalen Entbindung sind die Beckenbodenmuskeln und das Bindegewebe (Bänder und Faszien) immer überdehnt. Nach einer Geburt braucht es Zeit und Ruhe, damit sich das Gewebe wieder erholen kann. Wenn es zu Verletzungen gekommen ist, kann es sein, dass Probleme mit der Beckenbodenfunktion bleiben. Verletzungen des analen Schließmuskels (Dammriss 3. und 4. Grades) können langfristig Schwierigkeiten mit Wind- und Stuhlinkontinenz machen. Mit einer Levator ani Avulsionen steigt das Risiko für Senkungen stark an.
Was kann getan werden?
Ein Termin bei auf Beckengesundheit spezialisierten Physiotherapeut*innen lohnt sich generell nach einer Geburt, da sowohl der Beckenboden als auch die Bauchwand überdehnt und geschwächt sind. Viele Frauen können den Beckenboden nicht korrekt anspannen und bei Alltagstätigkeiten können hohe Drücke im Bauchraum entstehen die Urininkontinenz und Senkungen begünstigen. Beckenbodenphysiotherapeut*innen untersuchen und behandeln gezielt und ganzheitlich. [5][6] Auch mit unbeweglichen, schmerzhaften Narben, Rektusdiastasen (auseinander strebende Bauchmuskeln), Blasen- und Darmbeschwerden kann viel gemacht werden.
Wenn ein Dammriss 3./4. Grades bekannt ist sollten die Frauen am besten 6-8 Wochen nach der Geburt mit einer Behandlung zur Optimierung der Beckenbodenfunktion beginnen. Starke Beckenbodenmuskeln, die gut entspannen können, sind wichtig, aber auch die richtige Position und Dynamik zur Darmentleerung und das Vermeiden von Verstopfung bzw. zu flüssigem Stuhl.
Eine Levator ani Avulsion wird meist erst Wochen oder Monate nach der Geburt bemerkt. Auch hier ist eine optimale Beckenbodenfunktion wichtig. Je nach Schweregrad können die verbleibenden Muskelanteile so weit gestärkt werden, dass sie die Organe besser unterstützen. Momentan gibt es noch keine Möglichkeit die Muskulatur wieder anzunähen und da die Ergebnisse bei Senkungs-OPs mit bestehender Levator ani Avulsion schlecht sind sollte der Fokus auf einem möglichst frühen Beginn der Beckenbodentherapie liegen.
Geburtstrauma – nicht nur körperlich
Ein Geburtstrauma bedeutet, dass die Geburt für die Mutter (und den Vater) traumatisch war und hat nicht nur mit körperlichen Verletzungen zu tun. Es kann das Gefühl des Ausgeliefertseins und Hilflosigkeit, der Mangel an Aufklärung und Mitspracherecht oder verbale Angriffe sein der zu so einer Traumatisierung führt.[1] Es kann auch durch ein zurückliegendes Trauma ausgelöst werden. Ganz wichtig ist es, sich Hilfe zu holen. Das kann beim Arzt des Vertrauens oder spezialisierten Psychologen sein. Der Verein Schatten und Licht e.V. hat viele Informationen und Angebote auf ihrer Website und das Frauenhilfetelefon bietet unter der Nummer 0800-116 0 16 durchgehend Beratung an.
Sehr häufig gehen Frauen nach einer Geburt durch eine Trauer: Um den Körper, den sie verloren haben. Um die Dinge, die sie nicht mehr so einfach machen können. Um die Geburt, die sich gewünscht haben. Es gibt die klassischen 5 Phasen nach Kübler-Ross: Leugnen, Zorn, Verhandeln, Depression und am Ende die Akzeptanz. Nicht jede Frau geht durch jede Phase in dieser Reihenfolge, aber es ist ein Prozess, und das zu wissen kann helfen.
Ich hoffe mit diesem Blog niemandem Angst zu machen! Wissen ist Macht und kann unser Denken und Handeln beeinflussen. Informierte Entscheidungen können nur getroffen werden, wenn man weiß, worum es geht und welche Konsequenzen diese Entscheidung hat. Egal ob das Trauma den Körper oder die Psyche betrifft, es kann immer geholfen werden!
Mehr generelle Informationen zum Thema Beckenboden während Schwangerschaft und Geburt gibt es in einem früheren Artikel.
[1] Jansson, M.H., Franzén, K., Hiyoshi, A. et al. Risk factors for perineal and vaginal tears in primiparous women – the prospective POPRACT-cohort study. BMC Pregnancy Childbirth 20, 749 (2020). https://doi.org/10.1186/s12884-020-03447-0
[2] Jiang H, Qian X, Carroli G, Garner P. Selective versus routine use of episiotomy for vaginal birth. Cochrane Database of Systematic Reviews 2017, Issue 2. Art. No.: CD000081. DOI: 10.1002/14651858.CD000081.pub3.
[3] Rusavy, Z, Paymova, L, Kozerovsky, M, Veverkova, A, Kalis, V, Kamel, RA, Ismail, KM. Levator ani avulsion: a Systematic evidence review (LASER). BJOG 2021; https://doi.org/10.1111/1471-0528.16837. 00: 1– 12.
[4] Wilson D, Dornan J, Milsom I, Freeman R. UR-CHOICE: can we provide mothers-to-be with information about the risk of future pelvic floor dysfunction? Int Urogynecol J. 2014 Nov;25(11):1449-52. doi: 10.1007/s00192-014-2376-z. Epub 2014 Apr 17. PMID: 24740445.
[5] Hagen S, Stark D, Glazener C, Dickson S, Barry S, Elders A, Frawley H, Galea MP, Logan J, McDonald A, McPherson G, Moore KH, Norrie J, Walker A, Wilson D; POPPY Trial Collaborators. Individualised pelvic floor muscle training in women with pelvic organ prolapse (POPPY): a multicentre randomised controlled trial. Lancet. 2014 Mar 1;383(9919):796-806. doi: 10.1016/S0140-6736(13)61977-7. Epub 2013 Nov 28. Erratum in: Lancet. 2014 Jul 5;384(9937):28. PMID: 24290404.
[6] Radzimińska A, Strączyńska A, Weber-Rajek M, Styczyńska H, Strojek K, Piekorz Z. The impact of pelvic floor muscle training on the quality of life of women with urinary incontinence: a systematic literature review. Clin Interv Aging. 2018;13:957-965. Published 2018 May 17. doi:10.2147/CIA.S160057
[7] Creedy DK, Shochet IM, Horsfall J. Childbirth and the development of acute trauma symptoms: incidence and contributing factors. Birth. 2000 Jun;27(2):104-11. doi: 10.1046/j.1523-536x.2000.00104.x. PMID: 11251488.
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